Von den Brüdern Grimm ist viel die Rede. Ihr Bruder Ferdinand, der ein eigenes Werk von Fabeln und Märchen zusammentrug, ist heute vergessen. Als »schwarzes Schaf« der Familie endete er als 55-Jähriger, elend und verlassen.
Nach der kulturhistorisch-philologischen Spurensuche nach Goethes unbekanntem Großvater (Monsieur Göthé, Band 391) nehmen sich Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz die unausgeleuchteten Winkel der Familie Grimm vor. Sie entdecken, nach dem »Malerbruder « Ludwig Emil (Folioband, 2015): Ferdinand, den Unglücksraben der Märchen- und Sagensammlerfamilie.
Ferdinand Grimm (geboren 1790 in Hanau und früh gestorben in Wolfenbüttel) war der bunte Vogel, ein scheckiger Unglücksrabe unter den sechs Geschwistern der Familie. Auf dem Gebiet der Literatur und Volkserzählungen zu reüssieren, war sein Wunsch und Ziel: Er sammelte und publizierte Märchen und Sagen, war ein großer Kenner der Schriftkultur seiner Zeit, schrieb wunderbare Briefe.
Doch die »Brüder Grimm« blieben immer nur Jacob und Wilhelm. Ferdinand fehlte nicht nur der unbändige Lern- und Arbeitseifer seiner berühmten Brüder, ihm fehlte immer auch das Geld. Jacob und Wilhelm unterstützten ihn in einer Art repressiver Fürsorge. Sie gaben ihm Geld, aber ständig auch strenge, wenn nicht herablassende Ratschläge. In seinem unglücklichen, eigenbrötlerischen Leben half er auch seinen Brüdern beim Zusammentragen von Sagen und Märchen.
Er war ein umfassend orientierter Sammler, der auch - anders als seine Brüder - zu den Leuten ging und ihnen bei ausgedehnten Wanderungen zuhörte. Seine drei Anthologien veröffentlichte er unter verschiedenen Pseudonymen, wohl, um seinen Brüdern nicht ins Gehege zu kommen. So ist ein immenser, weitgehend unbekannter Schatz entstanden, aus dem in diesem Buch geschöpft wird.
Der neueste Streich des Duos Boehncke und Sarkowicz versammelt Sagen, Märchen, Briefe und andere Texte neben einem ausführlichen biographischen Essay, der dem »fremden Ferdinand« endlich Gerechtigkeit widerfahren lässt: Denn Ferdinand Philipp Grimm, der am Ende seines Lebens in die Bibliotheksstadt Wolfenbüttel gezogen war, brachte die Nähe der Bücher kein Glück.
"Ferdinand war ein Enfant terrible der Familie. Er verfügte über viele Fähigkeiten und noch mehr Interessen. Sein schauspielerisches Talent ließ ihn Leute, die er nicht mochte, trefflich imitieren ? oft war er krank ? immer fehlte ihm Geld. Dies alles waren Eigenschaften und Marotten, die es Jacob und Wilhelm auf die Dauer schwermachten, ihren zweitjüngsten Bruder zu lieben, vor allem, ihn geduldig zu alimentieren. (?) Vom "Unglück" Ferdinands war ? oft die Rede, auch von seiner "Unnatur" und dass er "verkehrt gelebt" habe. (?) Aber die Briefstellen könnten darauf deuten, dass Ferdinand homosexuell war und er seinen Brüdern am Weihnachtstag 1810 berichtet hatte. Es könnte die heftige Reaktion der Brüder erklären: Homosexualität galt im neunzehnten Jahrhundert vielerorts als Krankheit oder Verbrechen. Auch Jacob und Wilhelm Grimm werden nicht anders gedacht haben.
Ferdinand Grimm starb unter elenden Umständen ? Postum erschien noch ein Band mit "Burg- und Bergmärchen", die wie seine beiden andren Bücher zum festen Märchen- und Sagenbestand der deutschen Literatur gehören müssten."